Meine Rede zur Situation in den Justizvollzugsanstalten und des Fluchtversuches von Stephan B.
Sehr geehrte Damen und Herren,
sehr geehrte Frau Präsidentin,
ich beginne mit einem Zitat:
„Im Jahr 2019 feiern Juden in Deutschland an Jom Kippur in ihrer Synagoge und sie müssen um ihr Leben fürchten – 75 Jahre nach der Schoa.“
„Dafür schäme ich mich – auch dem Letzten muss nun klar sein: Deutschland hat ein Antisemitismus- und Rechtsextremismusproblem.“
„Es geht nun darum, deutlich zu machen, wofür unser Land steht – für den uneingeschränkten Schutz jüdischen Lebens, daran darf es nicht den geringsten Zweifel geben.“
Dies sind die Worte unseres Ministerpräsidenten kurz nach dem schrecklichen Attentat in Halle im Oktober des letzten Jahres. Zitiert durch die ZEIT. Die Welt hat an diesem und den Folgetagen auf uns geschaut und es war gut und richtig, genau so deutlich ein Zeichen gegen Antisemitismus und Rechtsextremismus zu setzen.
Herr Ministerpräsident, Sie haben an dem Tag und mit diesen Worten Verantwortung übernommen. Sachsen-Anhalt und auch die jüdischen Gemeinden weltweit können und müssen erwarten, dass sie diesen Worten auch Taten folgen lassen.
…und damit bin ich auch schon mitten in der von uns für den heutigen Tag beantragten Aktuellen Debatte:
Wir haben es beim Fluchtversuch des rechtsterroristischen Attentäters von Hall primär mit einem politischen Versagen auf mehreren Ebenen zu tun und damit meine ich ausdrücklich auch Sie, Herr Ministerpräsident!
Zu den Fakten: Das furchtbare Attentat am 9. Oktober 2019 in Halle war der Versuch eines Massenmordes an Juden am Jom Kippur, dem höchsten jüdischen Feiertag. Der Rechtsextremist Stephan B. versuchte, in die Synagoge im Paulusviertel einzudringen, um dort versammelte Personen zu töten. Nachdem ihm dies auch mit Waffengewalt nicht gelungen war, erschoss er vor dem Gebäude eine Passantin und kurz darauf den Gast eines Döner-Imbisses. Auf seiner Flucht verletzte er zwei Personen durch Schüsse und wurde schließlich von zwei Streifenbeamten festgenommen. Datum, Ziel und die antisemitischen Motive der Tat hatte er kurz zuvor im Internet bekanntgegeben. Die Tat übertrug er per Helmkamera als Live-Streaming.
Das furchtbare Attentat am 9. Oktober 2019 in Halle, welches zwei Menschen das Leben kostete und einen Tatverdächtigen in die Öffentlichkeit brachte, der seine Tat völlig unentdeckt vom Verfassungsschutz vorbereiten und durchführen konnte, macht deutlich, wie groß das Problem des Rechtsextremismus in Sachsen-Anhalt, in Deutschland ist. Stephan B. wurde nach seiner Festnahme in der JVA Halle, Roter Ochse inhaftiert.
Am 30. Mai 2020 gegen 13:50 Uhr kletterte er vom Freistundenhof aus über einen 3,40 Meter hohen Zaun in den Innenbereich der Anstalt, betrat ein weiteres Gebäude und suchte dort viele Minuten lang unbeaufsichtigt nach einem Ausgang.
Der Fluchtversuch misslang. Die Anstalt informierte das Justizministerium erst am 2. Juni 2020 über den Vorfall.
Die eigentliche Frage, die sich seit diesem Pfingstsamstag stellt, ist: War der Fluchtversuch ein nicht ungewöhnlicher Vorfall in einem Gefängnis, die Verkettung unglücklicher Umstände – quasi ein Unfall, oder haben wir es mit einem Vorfall zu tun, der verhinderbar gewesen wäre.
Für meine Fraktion sage ich hier ganz deutlich, dieser Fluchtversuch steht nach unserer Einschätzung am Ende einer Kette von Fehlverhalten, Versäumnissen und einem völligen Desinteresse der Verantwortlichen.
Fehlverhalten und Desinteresse sehen wir vor allem bei der Hausspitze des Ministeriums der Justiz und Gleichstellung.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen,für die Öffentlichkeit mag es merkwürdig sein, aber es war selbstverständlich überfällig, dass die erste politische personelle Konsequenz den Staatssekretär traf. Er war nach Innen für die Unterbringung des Rechtsterroristen Stephan B. in der U-Haft verantwortlich. Der Staatssekretär ist wahrlich kein Sündenbock.
Die Ministerin wiederum muss sich und uns die Frage beantworten, warum sie sich blind auf die Aussagen des Staatssekretärs verlassen hat. Augenscheinlich ohne Kontrolle.
Nach außen trägt sie selbstverständlich die Verantwortung. Es ist auch Ihre Verantwortung, Frau Ministerin, dass wir als Parlament nur kleckerweise von dem Fluchtversuch informiert wurden. Und Frau Ministerin, es ist für mich im höchsten Maße befremdlich, dass die Rechtspolitiker*innen der Koalition exklusiv durch Sie in einer Videokonferenz informiert wurden. Sie haben eine Informations- und Auskunftspflicht gegenüber dem gesamten Parlament!
Zum anderen steht bereits jetzt fest, dass die Fachaufsicht im konkreten Fall auf ganzer Linie versagt hat! Es ist augenscheinlich, dass der Attentäter von Halle mit seiner Unterbringung im Roten Ochsen in Halle, für das Justizministerium ab einem bestimmten Punkt nicht mehr von Interesse war.
Es macht den Anschein: „Mit dem Wegschluss aus dem Sinn!“ Man hatte die Verantwortung nach unten delegiert. Es wurden keine Berichte verlangt. Es gab keine Berichterstattungsverlangen. Es wurde nicht gefragt, ob der Vollzug der mit der Sicherheitsverfügung verbundenen Maßnahmen tatsächlich personell realisierbar und möglich war.
NICHTS.
…und ich hoffe sehr, dass das Gerücht, dass über den Domplatz hinaus zu hören ist, der zuständige Abteilungsleiter verbringe nur zwei von drei Wochentagen in Sachsen-Anhalt nicht der Wahrheit entspricht. Denn das wäre aus meiner Sicht angesichts seiner Aufgabe völlig unangemessen!
Die Frage, warum Stephan B. sich in der U-Haft im Roten Ochsen und nicht in Burg/ Madl befand, wurde im Rechtsausschuss mit der Einschätzung abgetan, dass beide Anstalten die gleichen Sicherheitsstandards haben. Wie absurd! …und das kann jedes Mitglied des Rechtsausschusses wahrlich besser und anders einschätzen. Da stellt sich die Frage, mit welchem Leichtsinn und mit welcher verantwortungslosen Risikobereitschaft hier eingeschätzt und gearbeitet wurde.
Wenn dann auch noch zu hören ist, dass die Entscheidung für Halle entgegen einer Empfehlung des Innenministeriums erfolgt sein könnte, weil die Verlegung nach Burg einer „Majestätsbeleidigung“ des damaligen Anstaltsleiters gleichgekommen wäre, kann ich nur fragen:
Wo leben wir denn??? Welche Kriterien waren und sind für derartige Entscheidungen eigentlich ausschlaggebend? Fand überhaupt sinnvollerweise eine Abwägung statt?
…und man stelle sich vor, dass im Jahr 2020 am Ende einer vorgeschriebenen Informationskette bei besonderen Vorkommnissen in unseren Gefängnissen ein empfangsbereites Fax steht.
Frau Ministerin, als Fraktion halten wir Ihnen zu Gute, dass Sie sich im Rechtsausschuss und auch in der Öffentlichkeit entschuldigt haben.
Glaubhaft entschuldigt.
Jetzt erwarten wir von Ihnen nur noch und ausschließlich Transparenz und die deutliche Bereitschaft zur Aufklärung des Vorfalls.
Insofern haben Sie Ihre Zukunft in der Landesregierung selbst in der Hand und es gilt vor allem: Vertrauen zurück zu gewinnen. Eine öffentliche Entschuldigung des Ministerpräsidenten oder überhaupt ein Wort zum Fluchtversuch ist bis heute nicht zu hören gewesen. Kein Bedauern. Keine Zusicherung - aufzuklären. Nichts.
Spätestens als aus der CDU-Fraktion die ersten negativen Stimmen zum Staatssekretär zu hören waren, hätte sich der MP zu Wort melden müssen. Nichts.
Ist es die Angst vor der eigenen Fraktion?
Herr Ministerpräsident, Sie ließen etwas laufen, was ein Ministerpräsident nicht laufen lassen darf! Dabei geht es mir nicht um die öffentlich diskutierte Personalrochade und den Umstand, dass möglicherweise jemand aus Ihren Reihen mit einem Posten belohnt werden soll, der allen Ernstes das „Nationale wieder mit dem Sozialen versöhnen“ will.
Nein, ich erinnere Sie an Ihr eigenes Zitat, das ich zu Beginn meiner Rede benannt habe.
Daran werden Sie gemessen. Zu Recht. Sie haben die Verpflichtung übernommen, persönlich für einen „uneingeschränkten Schutz jüdischen Lebens“ zu stehen.
Ich frage Sie daher, wann haben Sie sich das letzte Mal über die U-Haft des Rechtsterroristen von Halle berichten lassen? In welcher Regelmäßigkeit taten Sie das?
Welchen Beitrag leisten Sie bei der Aufklärung möglicher struktureller Defizite im Strafvollzug?
Sehr geehrte Damen und Herren, sehr geehrte Frau Präsidentin,
ja, wir haben ein strukturelles Problem in unseren Gefängnissen. Im Rechtsausschuss haben wir an mehreren Stellen darauf hingewiesen:
- Wir sind im negativsten Sinne „Spitze“ bei der Anzahl der Suizide in den Gefängnissen des Landes.
- Wir gehören zu den Ländern, die die geringste Arbeitsquote im Vollzug haben.
- Wir haben die wenigsten Lockerungen im Vollzug.
- Wir streichen nach und nach Bildungsangebote, die ein wesentliches Moment bei der Resozialisierung spielen.
- Unsere Jugendarrestanstalt hat seit fast einem halben Jahr keinen eigenen Anstaltsleiter.
- Wir wissen seit Jahren, dass der Altersdurchschnitt im Vollzug überdurchschnittlich hoch ist und der Krankenstand entsprechend ebenfalls.
- Wir haben insgesamt daher täglich zu wenige Bedienstete im Allgemeinen Vollzugsdienst.
…und Insider wissen, dass diese Liste noch fortgeführt werden kann. Das sind alles hausgemachte Probleme – teilweise bereits aus vergangenen Legislaturperioden, an denen Sie, Herr Ministerpräsident übrigens in vorhergehenden Regierungen mitgewirkt haben.Ich ziehe den Hut vor den Bediensteten in unseren Gefängnissen, die auf Basis dieser Bedingungen täglich ihren Job machen und danke ihnen dafür.
Ihr Berufsstand hat selbstverständlich auch durch die aktuelle Diskussion an Ansehen verloren. Doch es gibt sie noch, die jungen Menschen, die mit voller Überzeugung im Gefängnis arbeiten wollen. Ich kenne selbst eine junge Frau, die nach einem Praktikum beim Landesverband für Resozialisation hochmotiviert für diesen Beruf ist.
Es liegt jetzt an uns, diese Motivation nicht zu ersticken. Sowohl bei Berufsanfänger*innen als auch bei langjährigen Bediensteten. Das heißt dann aber auch, Entscheidungen zu treffen.
In Ihrem Koalitionsvertrag steht, dass Sie einen Drei-Standortvollzug für Sachsen-Anhalt wollen. Dann vollziehen Sie und treffen die dafür erforderlichen Entscheidungen.
Fakt ist, der Vollzug genießt weder in unserer Gesellschaft, noch in dieser Landesregierung ein hohes Interesse.
Fakt ist jedoch auch, dass wir uns mit dem Justizvollzugsgesetzbuch zwei klare Aufträge gegeben haben: Sicherung der Gefangenen und Resozialisierung für ein Leben in Freiheit ohne Straftaten.
Dafür müssen wir die Voraussetzungen schaffen.
Denn Fakt ist eben auch, dass ein Großteil der Gefangenen nach verbüßter Haft wieder in Freiheit entlassen wird und wir alle ein großes Interesse daran haben müssen, dass sie dann auch tatsächlich ein Leben ohne Straftaten führen.
Als LINKE haben wir in der Vergangenheit und werden auch in der Zukunft unseren Beitrag dazu leisten.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.