Zum 9. November – Schutz jüdischen Lebens

Zur Regierungserklärung anlässlich des Gedenktags am 9. November betont Eva von Angern, Vorsitzende der Fraktion DIE LINKE:

„Der heutige Gedenktag aus Anlass der Novemberpogrome von 1938 ist ein besonderer. Unsere Gedanken sind bei den Menschen, die vor 85 Jahren entrechtet worden. Und sie sind ebenso bei den Opfern des Terrorangriffs vor wenigen Wochen in Israel. Der Terror der Hamas am 7. Oktober war eine Kriegserklärung. Nicht nur die Morde selbst, auch deren Brutalität und der öffentlich verbreitete Schrecken ist Teil der Kriegsführung der Hamas. Das Ziel waren Jüdinnen und Juden. Das Ziel war die israelische Zivilgesellschaft. Nicht nur Leben, sondern Vertrauen wurde durch Terror zerstört.

Wir wollen, dass dieser Albtraum endet. Wir wollen, dass das Sterben und der Krieg enden. Wir trauern um die tausenden Toten, die es bereits nach nur einem Monat des Krieges in Israel und Gaza gibt. Wie kann man in dieser Situation zu einem Frieden kommen: Einem Frieden, der zugleich eine umsetzbare, eine staatliche Zukunft in der Region für die jüdische und die arabische Bevölkerung und alle anderen Gruppen garantiert? Dieser Frieden kann nicht gelingen, mit dem Kriegsziel der Hamas, Israel zu vernichten. Dieser Frieden kann nicht gelingen, wenn ein israelischer Minister mit der Atombombe droht.

Dieser Frieden kann nur gelingen, wenn die moderaten Kräfte und die internationale Staatengemeinschaft Wege der Verständigung offenhalten. Und, diese Verständigung gelingt nur, wenn nicht nur die Israelis für eine demokratische und gewaltfreie Verfasstheit ihrer Gesellschaft kämpfen, sondern auch die Menschen in Gaza und im Westjordanland. Umso entsetzter sind wir, wie sehr der Krieg die Menschen polarisiert, auch hier in Deutschland. Wir müssen feststellen, dass es unterschiedliche Wahrheiten zu geben scheint. Wie Gewalt gegen Israel sowohl gefeiert wird als auch bestritten.

Wie selbst die Verzweiflung der verschleppten Geiseln und ihrer Familien verhöhnt werden. Wir können sehen, dass Islamisten gezielt versuchen, die Stimmung zu eskalieren, auch um Muslime in Westeuropa auf die Seite der Radikalen zu ziehen. Wissenschaftlerinnen und Journalistinnen teilen mit, noch nie eine solche Flut von Propaganda und Falschmeldungen im Netz gelesen zu haben. 85 Jahre nach den Novemberpogromen müssen Menschen in Deutschland wieder Angst haben, als Juden öffentlich erkannt zu werden.

Die Zahl der antisemitischen Übergriffe ist bereits vor Ausbrechen des Krieges rasant gestiegen, wie wir der aktuellen Auswertung der Linksfraktion im Bundestag entnehmen können. Die wachsende Bedrohung seit dem 7. Oktober ist da noch gar nicht eingerechnet. Die aktuelle Mobilisierung schafft neue Räume der Angst auf unseren Straßen. Jüdische Eltern lassen ihre Kinder trotz Schule nicht aus dem Haus. Bleib zu Hause, mein Kind, heißt es. Denn sie sollen nicht unterwegs sein, wenn in Berlin, Essen oder auch in Magdeburg gegen sie demonstriert und skandiert werden soll. Hochproblematisch ist, dass es nur wenige islamistische Symbole braucht, um das Bild der palästinensischen Solidaritätsbewegung nur eindimensional zu zeichnen.

Das hilft denen, die die migrantische und die Mehrheitsgesellschaft noch weiter voneinander entfremden wollen. Deshalb sage ich, es ist nicht die Zeit sich Abzuwenden. Es ist Zeit, genauer hinzusehen, auch sicherheitspolitisch. Meinungs- und Versammlungsfreiheit enden dort, wo Leib und Leben anderer bedroht werden. Wir müssen uns auseinandersetzen, mit dschihadistischer Radikalisierung und ihren Motiven, - aber eben auch mit der Radikalität, mit der diese Gesellschaft Menschen anderer Herkunft herabsetzt.

Wir müssen uns offensiv der Frage stellen: Welche Perspektiven wir wem eigentlich seit Jahrzehnten zugestehen. Die Verteidigung des Grundgesetzes fängt an – mit der Umsetzung des Grundgesetzes: Mit dem unterschiedslosen Zugang zu Bildung, Gesundheitsversorgung, zu Sicherheit und Rechtsschutz, zu Arbeit und Wohlstand. Der Haushaltsentwurf der Bundesregierung ist in dieser Hinsicht skandalös.

Die knappe Hälfte der Bevölkerung in Deutschland hat Wurzeln im Ausland oder der DDR. 40 Prozent der Kinder und Jugendlichen unter 18 Jahren bundesweit haben einen migrantischen Familienhintergrund. Es ist Zeit, anders und neu über dieses Land zu erzählen. Bedenken wir: Nicht nur jüdische, auch muslimische Eltern sagen ihren Töchtern und Söhnen dieser Tage: Bleib zu Hause, mein Kind! Denn die meisten Menschen haben einen funktionierenden Kompass für Recht und Unrecht. Und genau diese befürchten, dass sowohl der Hass auf Juden, der Hass auf Muslime, als auch der Hass auf den Westen neues Futter bekommen. Wir dürfen nicht wegsehen und auch nicht nach dem 9. November einfach zur Tagesordnung übergehen!

Die extreme Rechte ist dabei der lachende Dritte. Schon während der Coronazeit konnten die Rechten die alten Verschwörungsmythen neu beatmen. Wir sehen dieser Tage, der Antisemitismus hat nichts verloren von seiner Niedertracht und seiner Kraft. Er schert sich nicht um Wahrheit, er schert sich nicht um Geschichte. Das vermeintlich Jüdische, das Kosmopolitische, das Westliche, das Liberale bleibt brauchbares Feindbild derjenigen, die Sündenbocke suchen und Schuldige brauchen. Die extreme Rechte hat die Meistererzählung nach 1945 erfunden: „Den Holocaust, den hat es nie gegeben.“ Mit einer solch infamen Botschaft eröffnete der rechtsextreme Täter in Halle im Oktober 2019 seine Live-Übertragung ins Internet. Zwei Menschen erschießt er vor laufender Kamera. Er will ein Blutbad in der halleschen Synagoge anrichten, zu Jom Kippur. Entkommen ist die Gemeinde dem Tod nur dank einer festen Tür.

Wir haben vor wenigen Wochen die Einweihung der neuen Synagoge in Dessau gefeiert. Ein schöner, ein seltener Moment. Eine Manifestation jüdischen Lebens – nach langer Zeit. Aber wir stehen gleichzeitig weiter vor der Frage, wie wir mit Judenhetze umgehen, wenn sie an der Wittenberger Schlosskirche hängt. Vielleicht verstehen jetzt endlich mehr Menschen als bisher, warum Jüdinnen und Juden Herabsetzungen nicht länger akzeptieren wollen. Antisemitismus ist für sie kein kulturhistorisches Phänomen, sondern biographische Erfahrung.

Die Novemberpogrome vor 85 Jahren waren eine von den Nazis inszenierte Gewaltexplosion. Die Botschaft des 9. November 1938 war brutal: Es gibt keinen sicheren Ort mehr für Juden im Deutschen Reich. 1941 wird die Pflicht zum Tragen des Judensterns eingeführt. Die Bedrängnis für die Betroffenen ist unvorstellbar. Schnell diskutieren die sogenannten Volksdeutschen darüber, wie man den Juden auch noch den letzten Zentimeter Freiheit streitig machen kann. Das Verbot der 1. und der 2. Klasse in den Bahnen und Zügen wäre schon ganz richtig, liest man in den Berichten der Geheimpolizei im Winter 1941. Aber wieso müssen in den Abteilen der 3. Klasse die Arbeiter die Plätze noch mit Juden teilen?

Jüdische Männer würden zudem den Stern auf ihrer Kleidung mit hochgetragenen Aktentaschen verdecken, Frauen dies ebenso mit ihren Handtaschen tun. Es könne passieren, dass ein Deutscher ahnungslos, einen Juden von hinten anspreche, und dies erst beim Umdrehen realisiere. Man hat auch Vorschläge zur Abhilfe: Kurzum, ein Stern gehöre auf der Brustseite angebracht, und ein zweiter Stern gehöre auf den Rücken. Zwei Sterne trugen Juden bereits  in den von den Deutschen besetzten Ostgebieten. Mit dem Überfall auf Polen und auf die Sowjetunion haben Massenmord und Völkermord begonnen.

Was sollen wir heute tun, am 9. November 2023? Wir werden in den Synagogen und an den Gedenkplätzen sein. Wir werden der über 6 Millionen ermordeten Kindern, Frauen und Männer und den Verfolgten des Nationalsozialismus gedenken. Wir werden verstehen, dass Jüdinnen und Juden das Land Israel als den einen sicheren Ort auf der Welt brauchen. Bei den Veranstaltungen, die wir in unseren Wahlkreisen besuchen, können Menschen sein, die am 7. Oktober Angehörige und Freunde verloren haben. Menschen, die um die verschleppten Geiseln bangen. Wir stehen an ihrer Seite.

Wir schützen all diejenigen, die dieser Tage auch bei uns in Bedrängnis geraten. Suchen wir den Kontakt mit denen, die Verständigung suchen, die aufmerksam sind, die kritisch sind gegenüber politischen Führern, die polarisieren und spalten. Seien wir behutsam mit unseren Gedanken und unseren Worten: Der Hass ist menschlich. Die Hoffnung ist es auch.“

 

Magdeburg, 9. November 2023